Die Europäische Kommission will weltweit eine Vorreiterrolle in Sachen Klima- und Umweltschutz einnehmen und hat 2019 den Green Deal beschlossen. Wir befragen drei Experten, ob die Maßnahmen die Versorgung mit Lebensmitteln beeinflussen. Im Interview:
Christiane Seidel, Referentin Team Lebensmittel bei der Verbraucherzentrale Bundesverband e.V., Dr. Hubertus Paetow, Präsident der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) und Janusz Wojciechowski, EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung.
Sind wegen Pandemie, Energiekrise und Ukraine-Krieg Änderungen der Green-Deal-Richtlinien erforderlich?
„Die Krisen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden“
Dr. Hubertus Paetow: Die Herausforderungen bei Klimaschutz und Artenvielfalt sind durch die Krise nicht gelöst, sondern erweitert um die Herausforderung der Ernährungssicherung. Die extensive Bewirtschaftung der Ackerflächen als Lösung scheidet aus, deshalb wird eine nachhaltige Innovation wichtig.
„Die extensive Bewirtschaftung der Ackerflächen scheidet als Lösung aus, deshalb wird eine nachhaltige Innovation wichtig“
Janusz Wojciechowski: Die Aggression Russlands in der Ukraine hat tiefgreifende Auswirkungen auf das globale Lebensmittelsystem. Die Lebensmittelsicherheit ist zu einem zentralen Anliegen geworden. In der Kommission beobachten wir die Situation und die Agrarmärkte sehr genau. In der EU haben wir das Glück, dass die Ernährungssicherheit heute nicht gefährdet ist, da die EU bei allen wichtigen Agrarprodukten weitgehend autark ist. Auch wenn kurzfristige Maßnahmen erforderlich sind, um mit dieser Ausnahmesituation fertig zu werden, dürfen wir nicht vergessen, dass der Übergang zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft unser einziger Weg zu einer langfristigen Ernährungssicherheit ist. In diesem Sinne ist es wichtig, an den Leitlinien der „Farm to Fork“-Strategie festzuhalten und dabei die Ausgangspunkte der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.
Die Aggression Russlands in der Ukraine hat tiefgreifende Auswirkungen auf das globale Lebensmittelsystem.
Welches ist die größte Herausforderung bei der Umsetzung des Green Deals für die Landwirtschaft?
Christiane Seidel: Die Wende hin zu mehr Nachhaltigkeit in Landwirtschaft, Lebensmittelproduktion und Ernährung muss gelingen. In der „Farm to Fork“- Strategie, als Teil des Green Deals, hat die Europäische Kommission Ansätze formuliert, wie der Übergang zu einem fairen, gesunden und umweltfreundlichen Lebensmittelsystem in Europa gestaltet werden kann. Dabei wird jede Stufe der Lebensmittelwertschöpfungskette, von der Produktion über den Vertrieb bis zum Verbrauch, einbezogen. Es liegt an allen Akteuren, das Erreichen dieser Ziele konstruktiv zu unterstützen. Ohne eine Veränderung der Konsumgewohnheiten, zum Beispiel geringeren Fleischkonsum, wird es nicht gehen. Genauso ist eine Verringerung der landwirtschaftlich gehaltenen Tiere und eine Erhöhung der Tierhaltungsstandards notwendig.
Dr. Hubertus Paetow: Bei vielen Umsetzungsvorschlägen mischen sich vernünftige Konzepte der nachhaltigen Entwicklung mit politisch-ideologischen Denkverboten und Fehleinschätzungen. Die Umsetzung wird nur gelingen, wenn man dies sauber voneinander trennt.
Wie können verringerte Ernteerträge aufgefangen werden ?
Christiane Seidel: Ernährungsgewohnheiten werden sich verändern müssen, und sie verändern sich auch längst. Es muss weniger in Tank und Trog und mehr direkt auf dem Teller landen. Die Mehrheit der Verbraucher gibt in Umfragen an, entweder schon weniger Fleisch zu essen oder sich dies vorzunehmen. Zwei Drittel würden ihre Ernährung aus Klima- und Umweltschutzgründen anpassen. Eine aktuelle Befragung zeigt, dass sich sogar 34 Prozent der Befragten vorstellen können, komplett auf Fleisch zu verzichten. Die meisten Verbraucher sind also an Bord, wenn es darum geht, die eigene Ernährung nachhaltiger zu gestalten. Damit dies auch tatsächlich gelingt, muss es im Alltag auch einfacher werden, sich nachhaltig zu ernähren. Da ist die Politik gefragt. Hier einige Ansätze: Die Tierhaltung muss grundlegend umgebaut werden, Obst und Gemüse sollten von der Mehrwertsteuer befreit werden, das Angebot vegetarischer und veganer Alternativen in der Gemeinschaftsverpflegung steigen. Außerdem sollte der Nachhaltigkeitsfußabdruck von Lebensmitteln einfach erkennbar sein.
Dr. Hubertus Paetow: Der Schlüssel zur Sicherstellung der Versorgung sind Neuerungen wie die Nutzung angepasster Pflanzensorten oder mechanische Unkrautregulierung mit autonomen Systemen wie mit Robotern. Die EU kann, ähnlich wie bei der Energieversorgung, nicht ohne Nahrungsmittelimporte auskommen. Hier gilt es, Abhängigkeiten von Lieferketten zu vermeiden.
Werden sich alle EU-Staaten an den Klimaschutzmaßnahmen beteiligen?
Dr. Hubertus Paetow: Das ist aus deutscher Sicht eine schwierige Diskussion. Viele Länder in Europa sind heute schon weiter im Klimaschutz, jedenfalls was den aktuellen Pro-Kopf-Ausstoß an Treibhausgasen betrifft. Die Ziele zur Minderung sind EU-weit definiert, aber es zeichnet sich jetzt schon ab, dass einige Länder diese nicht erreichen werden. Die aktuelle Energiekrise in Deutschland aufgrund der Abhängigkeit von Energieimporten wirkt hier nicht motivierend auf diese Länder.
Janusz Wojciechowski: Wir wissen, dass sich der Klimawandel auf alle Teile Europas auswirkt. Wetterumschwünge und die Dürren beeinträchtigen die Ernteerträge und die Produktivität der Viehwirtschaft. Es handelt sich um ein globales Problem, das wir auf EU-Ebene in Zusammenarbeit mit allen Ebenen der Behörden und der Zivilgesellschaft besser angehen können. Die Strategiepläne der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) bieten die nötige Flexibilität, die jedes Land braucht. Sie können die Maßnahmen wählen, die am besten auf ihre lokalen Bedürfnisse zugeschnitten sind, um unsere EU-weiten Ziele in Bezug auf Umwelt und Klima zu erreichen. Zum Beispiel könnten die skandinavischen Staaten mehr Gewicht auf die Wälder legen, während sich die südlichen Länder auf den Wasser- und Bewässerungsbedarf konzentrieren könnten. In der neuen GAP werden mehr Mittel als je zuvor für umweltfreundliche Praktiken, biologische Vielfalt und Tierschutz bereitgestellt.
Deutschland beispielsweise wird von 2023 bis 2027 für die GAP 30,5 Milliarden Euro erhalten, wovon ungefähr 9,7 Milliarden Euro direkt für Umwelt- und Klimaziele verwendet werden. Ein weiterer Schwerpunkt des deutschen Plans bis 2030 ist der ökologische Landbau mit dem Ziel, 30 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche ökologisch zu bewirtschaften.
Ist die Versorgung mit hochwertigen und bezahlbaren Nahrungsmitteln gewährleistet?
Christiane Seidel: Der Ukraine-Krieg und die humanitären Folgen in vielen Ländern zeigen, wie vernetzt unser globales Landwirtschafts- und Lebensmittelsystem ist. Das Wegbrechen wichtiger lebensmittelerzeugender Länder hat Auswirkung auf die globale Verteilung von Lebensmitteln sowie auf die Entwicklung internationaler Lebensmittelpreise. Das ist vor allem in den Ländern der Fall, die bereits vor dem Krieg gegen die Ukraine auf humanitäre Hilfe angewiesen waren. Vor allem in Ostafrika leiden die Menschen seit Jahren unter ausbleibenden Ernten – als nur eine Folge der Klimakrise. Für diese globalen Verteilungsprobleme braucht es langfristige, strukturelle und engagierte Lösungen.
Auch wenn in Deutschland die Lebensmittelpreise in den letzten Monaten gestiegen sind, ist die Versorgung mit Lebensmitteln grundsätzlich gesichert. Der Selbstversorgungsgrad Deutschlands liegt bei Produkten wie Fleisch, Kartoffeln, Milch und Weizen deutlich über 100 Prozent. Wir sehen aktuell keinen Anlass zur Annahme, dass die Versorgungssicherheit in Deutschland gefährdet ist. Gleichzeitig brauchen einkommensschwache Verbraucher Unterstützung, damit sie sich ausreichend und ausgewogen ernähren können.
Ist die europäische Agrarwirtschaft durch den Green Deal international noch wettbewerbsfähig?
Christiane Seidel: Wichtig ist, dass die Erhöhung von Nachhaltigkeitsstandards in der EU von einer Handelspolitik flankiert wird, die wesentlich weniger nachhaltige Importe zu wesentlich günstigeren Preisen unterbindet. Sonst werden europäische Nachhaltigkeitsbemühungen unterminiert. Es muss deshalb sichergestellt werden, dass auch für importierte Produkte dieselben Standards gelten wie für in der EU produzierte Lebensmittel. Eine verbindliche Kennzeichnung von Nachhaltigkeitsaspekten, einschließlich des Tierwohls, sowie ein umfassendes europäisches Lieferkettengesetz sind ebenso wichtig.
Dr. Hubertus Paetow: Das kommt sehr auf die Ausgestaltung der Instrumente zur Umsetzung der Strategien an. Wenn hier die Balance zwischen ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit gewahrt bleibt und alle Möglichkeiten des Fortschritts genutzt werden, so ist auch in Zukunft in der EU eine wettbewerbsfähige Nahrungsmittelerzeugung möglich.
Janusz Wojciechowski: Die EU steht bei der Bekämpfung des Klimawandels an vorderster Front. Wir können stolz darauf sein, dass wir in dieser für die nächsten Generationen so wichtigen Angelegenheit weltweit führend sind. Wir sollten immer wieder darauf hinweisen, dass alle in die EU eingeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse unseren gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Standards für Lebensmittelsicherheit, Tiergesundheit und Pflanzenschutz entsprechen müssen. Dabei wollen wir nicht naiv sein, aber unseren Landwirten aus der unfairen Situation helfen. Wir brauchen eine globale Umstellung auf nachhaltige Lebensmittelsysteme. Wir werden weiterhin mit unseren Handelspartnern zusammenarbeiten. Wir wollen sie ermutigen, Fortschritte im Bereich der nachhaltigen Entwicklung, der Zusammenarbeit im Bereich des Tierschutzes und des Kampfs gegen antimikrobielle Resistenzen zu machen. Dafür wollen wir unsere Handelsabkommen, die bilaterale Zusammenarbeit und unser Engagement in multilateralen Foren nutzen. Nach wie vor ist die EU der größte Lebensmittelexporteur der Welt und hält gleichzeitig die strengsten Umweltstandards ein. Dies ist eine große Leistung!
Wo stehen die Verbraucher?
Christiane Seidel: Das Thema Nachhaltigkeit steht bei Verbrauchern weit oben auf der Agenda, insbesondere beim Lebensmitteleinkauf. Das zeigt der aktuelle Report, den der Verbraucherzentrale Bundesverband 2022 veröffentlicht hat. Demnach ist 93 Prozent der Befragten die Nachhaltigkeit von Lebensmitteln wichtig. Verbraucher wollen nachhaltige Produkte aus heimischer Erzeugung. Dass sie auch bereit sind, mehr dafür zu zahlen, wissen wir aus unterschiedlichen Befragungen aus den letzten Jahren. In der Praxis fällt es Verbrauchern jedoch oft schwer, tatsächlich nachhaltig erzeugte Lebensmittel als solche zu erkennen. Der Siegeldschungel im Supermarkt macht es ihnen nicht leicht, den Durchblick zu behalten. Für eine echte nachhaltige Transformation der Landwirtschaft brauchen wir daher nicht nur hohe gesetzliche Tierschutz-, Umweltschutz- und Arbeitsschutzstandards, sondern auch eine bessere Kennzeichnung der Produkte, die schon jetzt diese Standards erfüllen. Dazu gehört auch, dass die Einhaltung dieser Standards regelmäßig und unabhängig geprüft wird.
Dr. Hubertus Paetow: Verbraucher richten ihr eigenes Verhalten ebenso wenig ausschließlich nach den Anforderungen des Gemeinwohls, wie dies Unternehmen tun. Insofern kommt es sehr auf die vernünftigen politischen Rahmenbedingungen an, sowohl bei den Konsumenten als auch bei den Erzeugern.
Christiane Seidel
Referentin Team Lebensmittel, Verbraucherzentrale Bundesverband e.V.
Janusz Wojciechowski
EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung
Dr. Hubertus Paetow
Präsident der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft
(DLG)