Die Samen von rund 150 000 Kulturpflanzen und verwandten Wildarten lagern in Sachsen-Anhalt und werden von Andreas Börner und seinem Team für kommende Generationen am Leben erhalten
Ein paar dicke Handschuhe und eine wattierte Daunenjacke gehören zum Arbeitsalltag von Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Börner, genau wie eine Elektrosäge oder Filterpapier. Seit knapp 40 Jahren arbeitet der Agrarwissenschaftler in der Genbank in Gatersleben, einer von insgesamt vier wissenschaftlichen Abteilungen des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung (IPK).
10 000 Mal pro Jahr testen er und seine rund 35 Mitarbeiter, ob eingelagertes Saatgut noch keimfähig ist. Um an das zu prüfende Saatgut zu gelangen, müssen die Forscher eine der fünf großen Kühlkammern betreten. Dort lagern die Samenmuster bei minus 18 Grad in meterhohen Rollregalen. Aufbewahrt werden die kostbaren Pflanzenmuster in klassischen Einweckgläsern. Das gilt beispielsweise auch für Kürbissamen. Hier muss die Frucht vorab mit einer Elektrosäge aufgeschnitten werden, um die Samen zu entnehmen.
Lebende Körner aus gemäßigten Klimazonen
Vor genau 80 Jahren, nämlich 1943, wurde das Institut gegründet. Doch das Sammeln der Samenmuster begann schon viel früher. „Die ältesten Samen sind vor über 100 Jahren aufgesammelt worden und stammen von österreichischen Getreidesorten aus den 20er Jahren“, erzählt der Hüter der Genbank.
„Die meisten Proben wurden allerdings in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren gesammelt, und zwar in gemäßigten Klimazonen. Dazu reisten deutsche Wissenschaftler auch nach Äthiopien, China oder in den Iran. Heute existieren diese Samenproben in diesen Ländern gar nicht mehr. Nur in Gatersleben“, so Börner weiter.
In der jetzigen Zeit würde man für die meisten Länder gar keine Sammelgenehmigung mehr erhalten. „Die Regierungen haben verstanden, was für einen Wert so ein Kulturerbe hat. Von daher existiert inzwischen in jedem größeren Land eine solche Genbank. Uns darf ich in diesem Bereich als Pioniere bezeichnen. Auch sind wir die größte Einrichtung dieser Art innerhalb der Europäischen Union und rangieren weltweit unter den Top Ten“, sagt Börner.
Aufwendiges Prüfverfahren
15 Jahre bräuchte seine Abteilung, um alle vorhandenen Saatgutmuster zu prüfen. Daher werden immer nur die Samen getestet, die schon ein gewisses Alter erreicht haben. So funktioniert die Keimfähigkeitskontrolle: Zunächst werden jeweils 100 Samen einer bestimmten Pflanzensorte auf ein angefeuchtetes Filterpapier gelegt und eine Woche lang in einem Keimschrank auf bewahrt. Wenn anschließend 80 Samen gekeimt haben, liegt die Keimfähigkeit der Probe bei 80 Prozent. Erreicht sie aber nur 70 oder weniger Prozent, werden weitere Samen der eingelagerten Probe auf einem Feld oder in einem Gewächshaus ausgesät, gepflegt, geerntet und die neuen und besten Körner in einem Weckglas zurück in eines der Kühlhäuser gebracht. Keines der Saatgutmuster darf verloren gehen.
Jährlich erhält die Genbank rund 20 000 Anfragen von Forschungseinrichtungen, Pflanzenzüchtern, anderen Genbanken, botanischen Gärten oder Privatpersonen aus aller Welt, die um Samenproben bitten. Aber auch Kollegen anderer Abteilungen des Gaterslebener Instituts erhalten Pflanzenmuster. Mit Getreidesamen aus Griechenland etwa soll erforscht werden, ob sich damit neue Züchtungen entwickeln lassen, die beispielsweise bei Wassermangel und langen Trockenperioden widerstandsfähiger sind. „Einmal haben sich Kollegen aus Äthiopien bei uns gemeldet. Sie wollten 7000 heimische Gerste- und Weizenproben haben, die bei ihnen verloren gegangen waren. Wir haben ihnen das lebende Material aus unserer Bank gesendet“, erinnert sich Andreas Börner.
Proteinhaltige Körner werden besonders alt
„Neben den Keimfähigkeitstests betreiben wir im Labor auch Grundlagenforschung“, erzählt der Professor.
„Wir wollen wissen, wie und warum ein Pflanzensamen altert. Wir haben festgestellt, dass zum Beispiel ölhaltige Samen wie Raps schneller altern als Samen, die Stärke enthalten wie die Gerste. Die am langsamsten alternden Samen sind alle sehr proteinhaltig – wie Erbsen, Bohnen oder Linsen. Wir schätzen, dass diese bei minus 18 Grad Celsius bis zu 120 Jahre überleben und keimen können.“
Scanner soll Keimfähigkeit erkennen
Aktuell arbeitet das Team an einem Scanner, der die Keimfähigkeit schneller und unkomplizierter nachweisen soll. „Statt die Samen wie bisher auszählen zu müssen, wollen wir eine fotophysikalische Methode entwickeln, bei der man einen Scanner nur an das Einmachglas halten muss, um zu erfahren, ob das Material noch keimfähig ist.“
Sicherheitslager in Spitzbergen
Um all die wertvollen Pflanzenmuster zu schützen, die es heute nicht mehr auf den Feldern gibt, und damit gleichzeitig die Artenvielfalt zu erhalten, vermeiden Andreas Börner und seine Abteilung jegliches Risiko. Bisher haben sie 65 000 Duplikate von Pflanzensamen unter Vakuum in Aluminiumtüten eingeschweißt und in verplombten Kisten nach Spitzbergen geschickt. Auf der norwegischen Inselgruppe lagert die Genbank Gatersleben neben vielen anderen internationalen Instituten ihre Duplikate in einem Sicherheitslager aus gefrorenem Gestein ein. Dieses wird nur dreimal im Jahr geöffnet, um neue Kopien aufzunehmen, und anschließend wieder verschlossen. „Irgendwann, in 30 oder 50 Jahren, müssen auch diese Duplikate wieder ausgetauscht werden, weil ihre Keimfähigkeit schwindet“, erläutert der Professor. „Aber dafür werden dann meine Nachfolger zuständig sein“, schließt er schmunzelnd das Gespräch ab.